Passion

Als evangelischer Gefängnisseelsorger arbeite ich mit einer offenen, religionspluralistischen Haltung. Wir Seelsorger:innen im Vollzug begegnen Menschen aller Religionen mit Respekt. Wir sind ausdrücklich nicht missionarisch ausgerichtet und wollen niemanden aktiv bekehren in einer Situation des Freiheits- und Autonomieentzugs.

Gleichwohl ist für mich persönlich das Kirchenjahr ein Leitfaden für meine innere Orientierung. „Alle Jahre wieder“ begegnen mir die Themen des Jahreszyklus‘: Weihnachten, Passionszeit, Ostern, Pfingsten. Sie beleuchten die Themen, mit denen ich im Gefängnisalltag konfrontiert werde.
Jetzt gerade sind wir in der Passionszeit, in den sieben Wochen vor Ostern.

Vor ein paar Monaten habe ich an einer Schreibwerkstatt für Theolog:innen teilgenommen.
Der Auftrag lautete: suchen Sie sich ein Verb aus der Kreuzigungsgeschichte im Neuen Testament aus und schrieben Sie auf, was Ihnen dazu einfällt. Hier mein Verb und meine Gedanken dazu:

„Dabeistehen“
Als Jesus am Kreuz hängt, stehen viele Leute dabei und sehen zu. So beschreibt es die Bibel. Einer dieser Leute bin ich. Auch ich stehe dabei, sehe zu, wie ein Unrecht geschieht. Ich sehe, wie jemand leidet, ich sehe zu. Ich stehe dabei.
Als Seelsorger erfahre ich vieles, was nicht in Ordnung ist. Im Gefängnis. Es sind bekannte Dinge, zum Beispiel Vollzugspläne, die verspätet und voller negativer Sätze geschrieben werden. Es sind aber auch Dinge, die mir anvertraut werden – von Unterdrückung, von versteckter und offener Gewalt gegen Einzelne, von Willkür, von Gleichgültigkeit und menschlicher Kälte.
Ich erfahre Vieles und ich stehe dabei. Was mir anvertraut wird, darf ich nicht weitersagen. Ich unterliege der Schweigepflicht. Ich sehe das Leiden, sehe die Tränen, höre das Weinen und kann nicht aktiv eingreifen in das Geschehen. Meine Rolle in der Passionsgeschichte Gefängnis ist es, dabeizustehen. 
Vielleicht (aber das kann ich mir nicht selber sagen, das kann mir nur der am Kreuz sagen),
vielleicht ist mein Dabeistehen
auch ein Beistehen.

Allen Ehren- und Hauptamtlichen des Fürsorgevereins wünsche ich viel Kraft beim „Da-Beistehen“! Auf die Passionszeit folgt Ostern, zum Glück. Ich grüße Sie mit meinem liebsten Osterpsalm, geschrieben von Rio Reiser:

„Land in Sicht, ruft der Wind in mein Herz.
Die lange Reise ist vorbei.
Morgenlicht weckt meine Seele auf,
ich lebe wieder und bin frei.
Und die Tränen von gestern wird die Sonne trocknen,
die Spuren der Verzweiflung wird der Wind verwehen,
die durstigen Lippen wird der Regen trösten.
Und die längst verloren Geglaubten
werden von den Toten auferstehen!“

Rio Reiser

von Friedrich Kleine, Gefängnisseelsorger JVA Fuhlsbüttel, Ev.-luth. Kirche Norddeutschland

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